Storytelling – von Helden und Drachen
von Hanna-Maria Lembcke
Wieder eines dieser Modewörter, die im PR-Kosmos herumschwirren und bei denen kaum einer genau weiß, was sich dahinter verbirgt. Dabei ist Storytelling eigentlich ganz einfach. Oder auch nicht. Ein Selbstversuch.
Ein lauer Frühsommerabend in Berlin. Die Sonne verschwindet gerade hinter den Häuserdächern. Durch das geöffnete Fenster dringt Vogelgesang in meine Wohnung, vermischt mit Gläserklirren und entspanntem Gelächter aus der Kneipe schräg gegenüber. Ich springe von meinem Schreibtisch auf und schließe das Fenster. Ich bin auf einer Mission und kann keine Ablenkung gebrauchen: Bis heute 24 Uhr muss mein Held und seine Geschichte im Mail-Postfach der Leiterin meines Storytelling-Workshops landen.
Zehn Stunden vorher. Neben mir haben sich noch drei weitere Seminarteilnehmer aus Hamburg, Berlin und Leipzig in den Altbau-Räumlichkeiten der Berliner Journalistenschule nahe des Savignyplatzes eingefunden. Wir arbeiten auf ganz unterschiedlichen Themengebieten, von IT-Technik über Kultur und Politik bis Gesundheit. Für zwei Tage werden wir uns gemeinsam in die schillernde Welt des „Storytellings“ begeben. Dabei begleitet uns Journalistin und Dozentin Cornelia Gerlach. Sie hat unter anderem für Brigitte, Die Zeit, Mare und brandeins geschrieben und vor vielen Jahren festgestellt, dass auch ein wunderbar poetischer Reisebericht gähnend langweilig sein kann, wenn darin etwas ganz Bestimmtes fehlt. Nämlich: Helden, Drachen und Schlachten.
Kein Storytelling ohne Helden
Der Drache ist eine Metapher für Herausforderungen, Gegenspieler oder widrige Umstände, denen sich eine Person – der Held oder die Heldin – stellen muss. Er kann diese überwinden oder auch an ihnen scheitern. Dieses Erzählmuster dürfte den meisten von uns dank Rotkäppchen oder Donald Duck schon von Kindheit an bekannt sein. Entdeckt wurde das Grundmuster der sogenannten Heldenreise von dem Mythenforscher Joseph Campbell (1904-1987). Der US-Amerikaner fand es in Mythen verschiedenster Naturvölker. Sie erzählten sich Geschichten, um Wissen weiterzugeben. Die darin verpackten Fakten oder Werte prägen sich über den emotionalen Zugang erfolgreich ins Gedächtnis ein. Eine Technik, die wir auch heute – mehr oder weniger bewusst – einsetzen. Dass Geschichten auch im digitalen Zeitalter hochmodern sind, zeigen beliebte Phänomene wie „Stories“ auf Instagram und Snapchat – oder anrührende Weihnachts-Videospots .
Dreh- und Angelpunkt jeder Geschichte ist der Held. Wer Storytelling in Journalismus und PR einsetzen möchte, steht allerdings oftmals vor der Herausforderung, dass zwar klar ist, was erzählt werden soll, aber nicht wessen Geschichte. In diesen Fällen ist es wichtig, ausreichend Zeit in die Auswahl geeigneter Protagonisten zu investieren. Das heißt, intensive Recherche und Vorgespräche.
Zur Beruhigung: Ein Held muss nicht über Superkräfte verfügen; er darf ein Alltagsheld, ja sogar ein Antiheld sein. Um seine Geschichte und interessante Wendepunkte aufzuspüren, helfen Fragen wie: Wo gab oder gibt es einen Konflikt in seinem Leben? An welcher Erfahrung ist er gewachsen? Wer hat ihn unterstützt, was waren Steine auf seinem Weg? Eine andere Möglichkeit ist, als Autor selbst den Helden zu geben und zum Beispiel einen Selbstversuch durchführen. Und wenn es keinen Helden im Sinne einer realen Person gibt? Dann muss ein fiktiver Held her, der zum Beispiel stellvertretend für eine Personengruppe steht. Das geht allerdings nur in der Welt der PR und Werbung. In allen anderen heldenlosen Fällen sollte man lieber ganz auf das Werkzeug Storytelling verzichten.
Film ab im Kopfkino
Mittlerweile ist es 14 Uhr. Gerade sind wir von der Mittagspause in der Sonne in den Seminarraum zurückgekehrt. Bei Kaffee und Keksen werten wir eine kleine Schreibübung aus: Jeder von uns hat sich nach dem gemeinsamen Mittagessen eine kleine Straßenszene notiert. Wir lesen die Texte reihum um vor und schauen, ob das Kopfkino angeht. Es funktioniert. Intuitiv haben wir aktive Verben, Präsens und viele beschreibende Adjektive verwendet. Gute Storytelling-Texte, so lernen wir, brauchen genau das: konkrete, präzise Beschreibungen von Personen und Handlungen. Sie helfen dabei, den Leser in die Geschichte zu holen, indem sie bekannte Erfahrungen aufrufen.
Dann wird es ernst: In einer Themenkonferenz tauschen wir uns über mögliche Plots für unsere erste eigene Story aus, die Ideen hatten wir bereits im Vorfeld eingereicht. Ziel ist es, einen Plot zu entwerfen, bei dem wir die Ereignisse in unserer Geschichte in eine interessante, nicht zwingend chronologische Reihenfolge bringen – und darin die Fakten geschickt unterbringen. Einen Nachmittag und Abend haben wir jetzt Zeit, um den Weg von der Theorie in die Praxis des Storytellings zu beschreiten. Das kann ja nicht so schwer sein, denke ich und lege motiviert los.
Auf dem Boden der Tatsachen
Gegen 17 Uhr sitzen wir immer noch alle im Seminarraum, keiner hat seine Geschichte fertig. Man bittet uns freundlich, aber bestimmt, jetzt den Raum zu verlassen, die Schule schließe jetzt. Ich steige in die S-Bahn und verabschiede mich für diesen Tag vom Konzept des Feierabends.
23:19 Uhr. Ich drücke auf „Versenden“ und atme durch. Hinter mir liegen eine Reihe gelöschter und wieder neu getippter Absätze, aber die Story steht. Eine wesentliche Erkenntnis: Beim Storytelling auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, ist gar nicht so einfach. Die Grundlage dafür muss man sich bereits im Vorfeld des Schreibprozesses erarbeiten, sprich bei Vor-Ort-Terminen und Interviews mit allen Sinnen Details und Stimmungen wahrnehmen und festhalten. Aber ich bin fürs Erste zufrieden und vor allem gespannt, welche Erfahrungen die anderen mit ihrer Geschichte gemacht haben.
Die Auflösung gibt‘s am nächsten Tag. Laut unserer Storytelling-Expertin Cornelia Gerlach haben wir uns ganz gut geschlagen. Aber Luft nach oben gibt es natürlich. In einem konstruktiven Austausch gehen wir jede unserer Geschichten durch und sehen hinterher ein ganzes Stück klarer. Dazu gibt es reichlich Schreibtipps von unserer Dozentin. Wir spinnen unsere Geschichten weiter und spielen mögliche andere Medien durch, über die sie sich erzählen ließen, von Online-Chats über Graphic Novel bis Kinospot. Damit geht unser zweiter Seminartag zu Ende. Wir tauschen Mail-Adressen aus und verstreuen uns inspiriert ins Wochenende. Zeit, den Feierabend von gestern nachzuholen.
Hanna-Maria Lembcke arbeitet als Redakteurin im Team Content von KOMPAKTMEDIEN. Seit kurzem ist sie großer Fan des Storytellings.