Alvin Toffler’s „Future Shock“ – 50 Jahre danach

15. Januar 2019

Wie leben wir in 50 Jahren? Wer jetzt mit den Schultern zuckt und sich sicher ist, dass man die Zukunft nicht kennen kann, dem empfehle ich einen Blick in ein klassisches Werk der Zukunftsforschung. Selten betraf eine Prognose so sehr die Gegenwart: Google, Apple, Facebook – Toffler hat viele digitale Entwicklungen vorausgesehen.

Von Jan Sonnenberg

Wir beginnen mit einem Quiz: Worum geht es wohl in der folgenden Beschreibung? „[…] ein System, das ein allumfassendes Konsumentenprofil – Daten über Beruf, Interessen etc. – in einem Zentralcomputer speichern würde. Maschinen würden dann Zeitungen, Zeitschriften, Video-Bänder, Filme und anderes Material prüfen und mit dem Interessenprofil des einzelnen Individuums vergleichen, damit sie dieses Individuum sofort benachrichtigen können, wenn sie etwas entdecken, was für ihn relevant oder interessant sein könnte. Das System könnte an Vervielfältigungsgeräte oder TV-Apparate angeschlossen werden, die in der Wohnung der Konsumenten stehen und hier das gewünschte Material an Ort und Stelle ausdrucken oder vorführen.“

Wer jetzt an Google, Apple, Facebook oder Amazon denkt, hat im Grunde alles richtig gemacht. Nur, dass es zum Zeitpunkt, als diese Zeilen niedergeschrieben wurden, weder „Personal Computer“ noch unzählige vernetzte Rechner, sprich: DAS Internet, gab. Genaugenommen sind diese Zeilen fast fünfzig Jahre alt. Sie entstammen dem Buch „Future Shock“ von Alvin Toffler, veröffentlicht 1970.

Tofflers Weltbestseller, der zahllose Autoren und Künstler (wie z.B. die erste Generation des Detroit Techno) inspirierte, bietet auch heute – und vielleicht gerade heute – viele Aha-Effekte. Denn etliche Trends und Stichworte, die wir als neu oder „zukunftsweisend“ empfinden: Toffler hatte sie schon; von der oft beschworenen „Reizüberflutung“ über das „Home Office“ bis zum „Zukunftsrat“, einem Bürgerdialog zur Festlegung von Forschungszielen. Einige stelle ich hier mal vor.

Willkommen im Superindustrialismus

Toffler (im Bild links), der als Futurologe und Regierungsberater wirkte, entwickelte die Zukunftsprognose einer erdumspannenden „superindustriellen“ Gesellschaft, die das Industriezeitalter hinter sich gelassen hat, neuen Beschäftigungsformen nachgeht, beispiellosen Wohlstand und eine nahezu grenzenlose Freiheit genießt: „Maschinen übernehmen die Routinearbeit, Menschen die intellektuellen und schöpferischen Aufgaben. […] Die Arbeit des Menschen wird aus der Fabrik und dem Großbüro nach Hause verlegt werden können.“

Die neue Welt ist durch drei radikale Megatrends geprägt: Vergänglichkeit (Dinge, Beziehungen), Neuheit und Vielfalt. Und Toffler spielt das sehr hellsichtig an zahllosen Alltagsphänomenen durch, vom agilen Projekt-Team im multinationalen Konzern, über die Patchwork-Familie, Wegwerf-Stars in einer entmonopolisierten Medienlandschaft bis zur vollautomatisierten Kleinserienproduktion, von der Bundesregierung heute als „Industrie 4.0.“ beworben.

In der superindustriellen Gesellschaft spielt die Produktion materieller Güter eine untergeordnete Rolle. Ihre Wertschöpfung verlagert sich auf Dienstleistungen und in einem späteren Stadium auf ausgefeilte psychologische Produkte, die „vorprogammierten Erlebnisse“. „Konsumenten werden in der Zukunft genauso bewusst und leidenschaftlich Erlebnisse sammeln, wie sie einst Dinge gesammelt haben“, weiß Toffler.

Freiheit als Schock

Doch eigentlich ist „Der Zukunftsschock“ ein Krisenbericht. Und das macht ihn für unsere nervöse Gegenwart besonders interessant. Denn ihm geht es um die schwierige Übergangszeit auf dem Weg in den Superindustrialismus, die Preise, die zu zahlen sind.

Für ihn steht fest: Wird die globale Transformation mit all ihren Chancen nicht intelligent gemanagt, geraten Individuen in eine psychische Extremsituation, die Überforderung durch permanenten Entscheidungsstress, den „Zukunftsschock“: „Es geht um die totale Kapitulation vor der Belastung, unter unbeständigen Bedingungen die richtige Wahl im Überangebot der Alternativen zu treffen.“

Und Toffler führt viele Probleme seiner Zeit darauf zurück. Zukunftsgeschockte Menschen greifen zu Alkohol und Drogen, dröhnen sich mit TV zu, werfen Beruhigungsmittel ein und flüchten beruflicher und familiärer Verantwortung. Wer an sich selbst „Herzklopfen, zitternde Hände, Schlaflosigkeit oder unerklärliche Erschöpfung, Reizbarkeit, Lethargie oder eine panische Angst verspürt, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein“: Think of Future Shock.

Ihnen empfiehlt Toffler, mal gezielt das Tempo aus dem Leben zu nehmen und sich persönliche „Stabilitätszonen“ einzurichten, in denen alles beim Alten bleibt. (Dazu gehört dann übrigens auch, auf schnelllebige Wegwerfprodukte zu verzichten.)

Bildungsstrategien für die superindustrielle Gesellschaft

Die Abwendung eines kollektiven Zukunftsschocks ist für Toffler die Kernaufgabe einer intelligenten Forschungspolitik. Sie hätte abzuwägen, welches Innovationstempo eine Gesellschaft verträgt – oder sich wünscht –, und würde eine sorgfältige Technikfolgenabschätzung vornehmen, bevor sich Technologien verbreiten. Eine zeitgemäße Sozialpolitik würde zudem gezielt „Enklaven der Vergangenheit“ schaffen, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern auf Wunsch Schutz vor zu viel Wandel bietet.

Vor allem aber setzt Toffler auf eine Bildungsrevolution. Für ihn ist 1970 klar, dass die intellektuelle Ausstattung der Menschen hoffnungslos antiquiert ist, um den Wandel gesund zu bestehen, und schon gar nicht, um seine Vorzüge auszuschöpfen: „Der einzelne benötigt außer einer von Grund auf neuen Bildung auch neue Grundsätze zur Planung und Steuerung seines Lebens.“

Dazu gehört erstmal, die Lehrpläne von Vergangenheit – und bestenfalls Gegenwart – auf Zukunft umzukrempeln. Toffler empfiehlt hier neue Unterrichtsformen, die gezielt den „Zukunftssinn“ junger Menschen aktivieren sollen, etwa durch Simulationen, Planspiele „Seminare auf Computerbasis“. Völlig zurecht fragt er, warum wir Geschichte unterrichten, es aber keinen Zukunftsunterricht gibt? „Über das Morgen schweigt die Schule“, sagt Toffler.

Für eine zeitgemäße Bildungspolitik heißt das: „Es reicht nicht mehr, dass Schüler die Vergangenheit verstehen. Es ist nicht einmal genug, wenn sie die Gegenwart begreifen, denn die Umwelt von heute wird schnell zur Vergangenheit gehören. Sie müssen lernen, die allgemeine Richtung und das Tempo der Veränderungen vorauszusehen.“

Zielreflexion und Lebenstechnik

Was Toffler im Anschluss entwickelt, ist die Idee einer abstrakt-universalen Lernkompetenz für die superindustrielle Ära. Mehr als alles andere müssen die Schüler das selbständige „Lernen, Verlernen und Umlernen“ lernen. Und ganz unmissverständlich: „Der Analphabet von morgen wird nicht der Mensch sein, der nicht lesen kann, sondern derjenige, der nicht das Lernen gelernt hat.“

Doch Toffler sieht auch, dass es nicht „nur“ um einen neuen Umgang mit Wissen geht. Wer in einer von Veränderlichkeit, Neuheit und Vielfalt geprägten Welt sinnvoll leben und handeln will, braucht in einem bisher ungeahnten Ausmaß Klarheit über persönliche Zielsetzungen, ein Auge, auf dem traditionsorientierte Gesellschaften für gewöhnlich blind sind:

„Mit dem Zunehmen der Alternativen wird ein Mensch ohne festes Wertsystem immer stärker benachteiligt. […] Millionen durchlaufen das Bildungssystem, ohne auch nur einmal gezwungen worden zu sein, die Widersprüche in ihrem eigenen Wertsystem aufzuspüren und über ihr Lebensziel gründlich nachzudenken. […] Unter solchen Umständen werden natürlich Menschen erzogen, die keine fest umrissenen Ziele haben und unfähig sind, im Überangebot von Alternativen sinnvolle Entscheidungen zu treffen.“

Es muss also beides zusammenkommen, wollen wir im Superindustrialismus nicht untergehen: die Fähigkeit zu einer täglichen aktiven (Neu-)Orientierung in einer schnell veränderlichen Welt, aber auch das souveräne Erfassen der persönlichen Interessen und Ziele auf lange Sicht. Bildung im Superindustrialismus heißt für Toffler daher nicht weniger als eine „universale Ausbildung in Lebenstechnik.“

Chancengerechtigkeit

Haben wir sowas eigentlich, 50 Jahre später? Orientieren wir uns heute besser in der Vielfalt der Chancen als die Leute von 1970? Geht die Schule neue Wege? Haben wir mehr Zukunftssinn? Eine erprobte „Lebenstechnik“ für das 21. Jahrhundert?

Eins ist klar: Nie zuvor war die Infrastruktur für autodidaktisches Lernen besser und kostengünstiger als heute. YouTube-Tutorials, Lern-Apps, Serious Games, Wikipedia-Einträge, Webinare bis hin zu öffentlich übertragenen Hochschulvorträgen: nahezu das gesamte Wissen der Menschen steht uns heute zur Verfügung, samt einer Vielzahl kreativer Lernzugänge. Und an etlichen Stellen bemühen sich unsere öffentlichen Schulen, die Selbstlernkompetenz unserer Kinder zu aktivieren, statt bloßen Stoff zu vermitteln.

Daneben ist heute weitgehend unbestritten, dass die Befähigung zu selbständigem Lernen zum Kernbestand einer modernen Chancengerechtigkeit gehört. Eine demokratische Bildungspolitik muss sich daran messen lassen, ob die Entwicklung und Vermittlung einer zeitgemäßen „Lebenstechnik“ ein privates Elitenprojekt bleibt, das sich als waschechtes Klassenprivileg lediglich sozial vererbt, oder ob sich diese Bildungsrevolution in der Breite der Bevölkerung stabilisieren lässt und allen zugutekommt.

 Kulturkampf um den Wandel

Dennoch können wir an unzähligen Stellen beobachten, wie ungleich Menschen in der Lage sind, sich in der Welt von 2018 zu orientieren, die Chancen einer postindustriellen Gesellschaftsordnung zu nutzen, ihr Leben zu planen und persönliche Freiheit zu kultivieren.

Während die einen aufblühen und moderne Karrieren als Wissensarbeiter oder Kreative in neuen Branchen einschlagen, sind typische Routinearbeiter von der nächsten Welle der Automatisierung bedroht, nicht nur beim autonomen Fahren. Nicht wenige Menschen fühlen sich abgehängt und überfordert. Zukunfts- und vergangenheitsorientierte Bevölkerungsteile leben in ihren jeweiligen Enklaven nebeneinander her, von Berlin bis Bautzen.

Am Ende hängt vielleicht auch der Aufstieg des Rechtspopulismus mit dieser Transformation zusammen. Er wirkt stellenweise wie eine Revolte gegen den Wandel an sich, oder zumindest sein Tempo. Durch die Toffler-Brille betrachtet könnte es sich also um eine Ausprägung des Zukunftsschocks handeln, einer Reaktion auf Überforderung. 1970 beschrieb es Toffler so: „Wir befinden uns […] in einer Krise der industriellen Gesellschaft, die von ihrer politischen Form unabhängig ist. Das Problem ist, ob wir mit der Freiheit fertigwerden.“

Zitiert aus: Alvin Toffler Der Zukunftsschock – Strategien für die Welt von morgen; Wilhelm Goldmann Verlag, 1970.

Jan-Philipp Sonnenberg ist Teamleiter Strategie und Konzeption bei KOMPAKTMEDIEN. Wenn er nicht gerade Spiegel-Online liest oder für unsere Kunden arbeitet, schnappt er sich gerne gebrauchte Bücher.